Letzten Freitag kam Luisa zu mir ins Coaching. Sie betrat den Raum, lies die Tür hinter sich
zufallen und brach sofort in Tränen aus. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Knie waren so weich,
dass sie kaum laufen konnte. Ich nahm ihre Hand und führte sie behutsam zum nächsten Stuhl, wo
sie Platz nahm. Schluchzend erzählte sie mir, dass sie einfach nicht mehr konnte. Wie sollte sie das
alles schaffen, klagte sie. Ich sollte ihr den Ausweg aus ihrem Hamsterrad zeigen.
Als sie sich gesammelt hatte, schilderte sie mir den Vorfall genauer: „Die Zeit rast nur so davon und
ich komme einfach nicht hinterher mit meinen Aufgaben. Ich sehe nur noch die Arbeit und habe
kein Leben mehr- und habe vor allem keine Kraft!“ Sie erzählte, dass sie diese drohenden Berge an
Aufgaben schon vor ihrem geistigen Auge sah, während sie in ihr Auto einstieg, um zur Arbeit zu
fahren. Dort angekommen, schlug sie jedes Mal die Hände über den Kopf zusammen, weil der
Stapel über Nacht noch höher geworden war. Ein Schreibtisch war schon nicht mehr zu erkennen,
berichtete sie. „Einfach wieder gehen“ waren ihre einzigen Gedanken, erzählte sie mir und fuhr fort:
„Völlig demotiviert lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen und greife den oberen Teil des Stapels,
als plötzlich das Telefon klingelt. Es ist die Sekretärin des Chefs. Ich solle in zwei Minuten in die
Aufsichtsratssitzung kommen. Der Vorsitzende hätte ein paar Fragen, die sofort beantwortet werden
müssten. Was soll man da machen? Also erhebe ich mich genauso demotiviert von meinem Stuhl
wieder, in den ich mich keine paar Minuten zuvor fallen ließ und greife nach meiner Tasche, auf der
Suche nach meinem nächsten Beruhigungsmittel: der Zigarette.
Während ich mich runter zu meiner Tasche beuge, werde ich von hinten angegriffen und schlage
mit dem Kopf auf eine scharfe Kante…In Minutenschnelle kracht mein Körper auf den Boden und
es wird finstere Nacht. Ich sehe nichts mehr, spüre nur noch wie mehrere Sachen auf mich drauf
fallen, dann bin ich weg… Die Zeit verstreicht…Ganz leise höre ich von ferne ein Telefon klingeln.
Ich sehe nur schwarz. Das Signal wird immer lauter und kommt näher. Langsam wird es auch
wieder heller…Ach das ist ja mein Telefon! Warum liege ich auf den Boden?!, wundere ich mich.
Ich grabe mich durch den Berg von Akten, der mich zudeckte und greife nach dem Telefon. Jetzt
realisiere ich, was passiert ist: Vermutlich hat sich die Schlaufe meiner Tasche verfangen und den
Papierstapel einstürzen lassen. Der Locher, den ich zum Beschweren auf den Aktenstapel legte,
musste wohl auf meinen Kopf gefallen sein und ihn zur nächsten Kante gedrückt haben, wovon ich
dann bewusstlos wurde. Keine Ahnung, wie das geschah und wie lange ich da lag“, berichtete sie,
immer noch total durcheinander.
Schweigen ersetzte den Klang ihrer Stimme und sie tupfte sich mit ihrem Taschentuch ihre Wangen
trocken.
„Geht es Ihnen jetzt besser?“, fragte ich sie nach einer Weile. Sie nickte.
Ich nickte zurück und schaute sie aufmerksam an: „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich muss irgendwie mit den ganzen Aufgaben klarkommen,“ antwortete sie.
Da sie Leiterin der Rechtsabteilung war, litt bereits die Qualität ihrer Arbeit. Schäden für die Firma
drohten, da Rechtsstreitigkeiten nicht ordentlich bearbeitet werden konnten. Sie sah zusätzlich die
Gefahr, dass Banken Darlehen kündigen würden und dass der Vorstand massive Probleme wegen
ihr bekommen würde. Sie wollte auch nicht, dass der Aufsichtsrat einschreiten müsste. Irgendwie
müsste sie das doch alles schaffen, meinte sie.
„Sind Sie bereit?“, fragte ich. Sie nickte. Ich leitete sie an und sie schrieb all ihre Todos
untereinander auf. Dann ordneten wir ihre Aufgaben nach Bereichen und sortierten sie noch einmal.
Neben den Todos schrieben wir auf, wie lange sie schätzungsweise an der Aufgabe saß und wie oft
in der Woche/Monat/Jahr sie diese Aufgabe erledigen musste. Nach einer Stunde waren alle ihre
Aufgaben auf der Arbeit erfasst und farblich nach Priorität markiert. Es kam heraus, dass die Firma
zu wenig Personal hatte und sie die Arbeit für drei Angestellte machte. Sie sank in ihren Stuhl
zurück und sah sich ihre Liste an.
„Wenn Sie sich so ihre Liste an Aufgaben anschauen, welche davon können Sie bündeln oder
miteinander kombinieren?“, fragte ich sie und sie nahm einen weiteren Stift und malte
Verbindungen. Auf einmal war das Blatt ganz bunt und ihre Augen weiteten sich. „Wie schön das
aussieht!“, schmunzelte sie. Ich nickte. „Können Sie Ihre gebündelten Aufgaben in Kurzfassung
noch einmal aufschreiben und auf ihrer ursprünglichen Liste streichen?“ Eifrig machte sie sich an
die nächste Aufgabe und man spürte, wie sie in den Flow kam. An ihrer Körpersprache konnte man
lesen, was das für eine Genugtuung für sie war, diese Aufgaben zu streichen und sie zu verkleinern.
Wir prüften die Dauer jeder Aufgabe und setzen für viele ein Zeitlimit.
Ich gab ihr den Tipp für jeden Tag die drei wichtigsten Aufgaben zu bestimmen und diese am
Anfang des Tages zu erledigen. Sie ging mit der Erinnerung an die Bündelung der Aufgaben nach
Hause.
Eine Woche später kam sie mit einem Lächeln im Gesicht wieder zu mir ins Coaching und setzte
sich beschwingt auf ihren Stuhl. Sie berichtete, dass sie etwa 20% mehr Aufgaben am Tag schaffen
würde. Sie ist so erleichtert und kann tiefer und ruhiger atmen. Die Berge sind jetzt nicht mehr so
bedrohlich wie vorher und sie kann den Tisch wieder sehen, meinte sie. Ihre Kollegen hätten sie
schon darauf angesprochen, dass sie schon viel stabiler und selbstbewusster durchs Büro laufen
würde. Allerdings gab es da noch ein Problem…
Sie starrte traurig auf den Boden und sämtliche Freude wich schlagartig aus ihrem Gesicht. Ihre
Aufgabenberge wuchsen nicht mehr, aber am Limit war sie allemal. Wir arbeiteten ihre Liste noch
einmal sorgfältig durch und schrieben alles haargenau auf. Mit dieser Liste ging sie zuversichtlich
und voller Hoffnung auf Besserung ein paar Tage später zu ihrem Vorgesetzten und zur
Personalabteilung. Diese erkannten die kritische Sachlage an und Luisa stellte einen Antrag auf
Unterstützung. Heute hat sie eine Assistentin, die ihr viel Arbeit abnimmt und sie sehr entlastet.
Luisa freut sich, wenn sie zur Arbeit geht und kann ihren Erfolg genießen, denn gemeinsam sind sie
stärker als alleine.
Adriane, Mitte 30, die seit mehreren Jahren als Mediatorin und Group Compliance
Officer in einem Unternehmen arbeitet, kam zu mir, weil sie Angst hatte, bald im
Burnout zu enden.
Sie setzte sich hin und bat mich erst einmal ihre Tochter anrufen zu dürfen, denn sie
machte sich Sorgen, ob sie im Kühlschrank ihr schon vorbereitetes Essen vorfinden
würde ... Als die Tochter sagte, dass alles ok wäre, war sie beruhigt und wir
widmeten uns unser Gespräch…
Sie erzählte mir, dass sie Probleme hatte, zu viel Verantwortung zu übernehmen. Sie
nahm Verantwortung für Dinge, die eigentlich gar nicht ihr Aufgabenbereich waren,
weil sie dachte, dass es sonst nicht läuft. Sie wollte ein Vorbild sein und hatte ein
schlechtes Gewissen, wenn sie sah, dass etwas getan werden müsste und es keiner
machte. Dann machte sie es, sagt sie.
Sie konnte schlecht Grenzen für sich selbst setzen und übernahm freiwillig die
Verantwortung für den gesamten Projekterfolg und nicht nur für einen Teil des
Projektes. Dann merkte sie, wie ihre Energie immer mehr schwand und sie immer
frustrierter wurde.
Auch ihre Leistung litt bereits darunter und die Qualität ihrer Arbeit lies nach. Das
hatte zwar noch keiner gemerkt, aber sie merkte es selber, erzählte sie mir. Sie weiß
genau, dass, wenn sie nicht bald etwas dagegen unternehmen würde, würde sie
immer mehr in schlechte Gedanken und Depressionen rutschen bis ihre
Überverantwortung und Ihr Tatendrang sie in ein tiefes Loch und Burnout stürzen
werden.
Und die Folge davon wäre, dass sie für Wochen oder sogar Monate ausfallen würde.
Dies würde der Firma enorme Verluste und Schaden zufügen.
Im Coaching suchte ich mit ihr nach möglichen Ursachen ihrer Überverantwortung.
Dabei stellte sie fest, dass sie so erzogen worden war, dass man im Job alles geben
müsste, denn ansonsten wäre man ja ein Schmarozer und würde die Gesellschaft
ausnutzen. Es waren diese hemmenden Glaubenssätze aus der Kultur gewesen, die
ihre Angst, den Job zu verlieren oder die Angst, dass sie für Schäden haften müsse,
schürten. Immer wieder kreisten ihre Gedanken darum, dass es doch ordentlich
laufen müsste.
Des Weiteren untersuchten wir gemeinsam die Situationen, in denen sie zu viel
Verantwortung übernahm und in welchen Situationen sie keine Überverantwortung
zeigte. Die Situationen mit Überverantwortung kamen immer dann vor, wenn es um
zeitkritische Projekte ging, Projekte, die wesentlich für das Überleben der Firma
waren. Sie fühlte dabei immer Frust und Druck. Sie war angespannt und überfordert.
Gefühle der Ohnmacht und Wut vermischten sich. Vor allem war sie dann wütend auf
ihre Kollegen, weil sie das Gefühl hatte, dass ihre Kollegen nicht kompetent genug
waren und keine Verantwortung für die Firma übernehmen würden. Sie seien so faul
und langsam und sie fragte sich ständig, warum es hier nicht voranging. Was daran
so schwer wäre, ein Projekt geordnet durchzuführen, verstand sie nicht. Immer ginge
es hin und her, berichtete sie. Und keiner wollte die Verantwortung für den
Projekterfolg übernehmen.
Die Situationen, in denen sie keine Überverantwortung an den Tag legte, waren
Situationen, in denen sie administrativen Aufgaben und Routineaufgaben übernahm;
Aufgaben oder Themen, die gar nicht ihre waren z.B. bei Sekretariatsaufgaben. In
diesen Situationen fühlte sie Leichtigkeit, Ruhe und Entspannung.
Wir untersuchten, ob es auch Situationen gab, in denen sie eine gesunde
Verantwortung übernahm, die sowohl ihr als auch ihren Kollegen guttaten. Das
waren Situationen, in denen es um die Änderungen der Gesetze ging, die in einer
Haftung der Führungskraft resultieren könnten. Hierin informierte sie auch immer
die Verantwortlichen der anderen Fachbereiche und wies sie darauf hin, dass sie die
Maßnahmen selbst umsetzten sollten. Sie informierte sich stets über aktuelle Themen
aus ihrem Verantwortungsbereich, um auf dem Laufenden zu bleiben und Risiken
frühzeitig zu erkennen. Das alles waren Themen, die ihr Interesse weckten, die ihr
Spaß machten und worauf sie sich konzentrierte und fokussierte. Sie war stets
gespannt, was es Neues gab und wie sich das Recht entwickeln würde.
So erkannte sie den Unterschied zwischen einer gesunden und einer ungesunden
Verantwortungsübernahme in Bezug auf sich selbst. Sie erkannte, wann bei ihr die
Grenze zur übermäßigen Verantwortungsübernahme erreicht war und wollte sich
mehr auf die Aufgaben konzentrieren, bei denen sie eine gesunde Verantwortung
übernahm. Diese nannte sie Aufgaben mit Vorbildfunktion, denn dort könnte sie eine
bessere Qualität erreichen.
Danach schauten wir uns noch ihre Glaubenssätze an und die Motivation, die sie zur
Überverantwortung führte. Mit beidem setzten wir uns kritisch auseinander und
hinterfragten ihre Gedanken diesbezüglich. Sie erkannte, wie unrealistisch ihre
Gedanken waren und dass ihre Stelle auf keinen Fall gefährdet war. Das verschaffte
ihr Erleichterung und Frieden im Herzen.
Heute kann sie sich gut abgrenzen, hat kein schlechtes Gewissen und kann Aufgaben
ihren Kollegen belassen, die in ihren Verantwortungsbereich gehören. Sie hat es
gelernt, ihr Verantwortungsbewusstsein besser zu steuern und es zielgerichtet und in
einem gesunden Maße einzusetzen.